Der Geier – bequemes Superschiff der 50er Jahre
von Claudia Gallikowski
Heutzutage kennt ihn kaum noch jemand – das Segelflugzeug „Geier“. Dabei waren Anfang der 90er Jahre noch 4 Exemplare des „Geier II“ in Deutschland zugelassen und ein allerletzter „Geier I“ flog noch in England. In den 50er Jahren war der Geier mit fast 18 Metern Spannweite eines der leistungsstärksten Segelflugzeuge. Mit seinem 8,20 Meter langen, mächtigen Holzrumpf und den schlanken Flügeln hatte der Geier am Himmel ein elegantes und dabei sehr charakteristisches Flugbild. Auf Streckenflug-Wettbewerben war er bis weit in die 60er Jahre hinein erfolgreich und behauptete sich noch lange gegen die aufkommende Kunststoff-Konkurrenz.
Der Geier hatte für die damalige Zeit ein ungewöhnlich geräumiges, bequemes Cockpit, das bereits mit Pedalverstellung ausgestattet war. Hans-Werner Grosse erinnert sich, dass man unter der hochgewölbten Haube des „Geier I“ sogar einen Zylinder tragen konnte – so viel Platz für den Piloten gab es sonst kaum in den Holzseglern der Nachkriegszeit!
Der einprägsame Name leitet sich nicht etwa von den gefiederten Fliegern, die unter den Vögeln als geborene Thermikflieger gelten, her, sondern bezieht sich auf den Konstrukteur, Josef Allgaier. Dieser hatte als junger Mann in den Kriegsjahren segelfliegen gelernt. Seine B-Prüfung legte er auf einem „Schulgleiter“ ab. Leider hatte er nach Kriegsende keine Gelegenheit mehr, selber zu fliegen. Edmund Schneider übergab ihm damals Pläne seines „Grunau Baby“, von dem Allgaier bereits 1950 heimlich Teile fertigte. 1951 stellte er dann das erste im Nachkriegsdeutschland gebaute „Grunau Baby“ in seiner Schreinerwerkstatt im Allgäu her. Für Scheibe Flugzeugbau lieferte er danach Teile der Mü-13 und des Spatzen. In seinem Werk in Wank bei Nesselwang waren in Spitzenzeiten bis zu 12 Mitarbeiter mit dem Bau von Holzflugzeugen beschäftigt.
Als die Aufträge von Scheibe nachließen, beschloss Allgaier, ein eigenes Segelflugzeug zu konstruieren und in seinem Werk zu fertigen. Er sollte ein Hochleistungssegler werden, der von der Bauausführung so einfach konstruiert war, dass er als Bausatz auch in den Vereinen gefertigt werden konnte. Bei der Konstruktion der Geierflächen orientierte sich Allgaier an den erfolgreichen Leistungsseglern seiner Zeit, der Weihe und dem Zugvogel. Ursprünglich strebte Allgaier bei der Konstruktion eine Zusammenarbeit mit Rudolf Kaiser an, doch der hatte gerade seinen Arbeitsvertrag in Poppenhausen unterschrieben, wo er die berühmte K-Reihe der Segelflugzeuge begründete. Deshalb entwickelte Allgaier – nur mit Unterstützung eines technischen Zeichners - den Segler alleine weiter.
Der Geier-Prototyp flog 1955. Die ungewöhnliche Konstruktion war ohne weitere Änderungen auf Anhieb erfolgreich. Die Flächen hatten das gutmütige Göttinger-Profil 549 erhalten, ähnlich wie die Weihe, aber mit mehr Streckung. Gegenüber der Weihe (1:29) war der Geier mit 1:32 in der Gleitleistung deutlich leistungsstärker. Bei der Flugerprobung war der Musterprüfer Hans Zacher von den guten Flugeigenschaften des Prototypen, „der von einem Schreiner konstruiert wurde“, sehr beeindruckt.
Von der Firma Allgaier wurde von diesem Flugzeug, das später „Geier I“ genannt wurde, nur der Prototyp hergestellt. Dieser wurde an den LSV Worms geliefert. Über den weiteren Verbleib dieses Flugzeugs ist heute nichts mehr bekannt. Es wurden von der Firma Allgaier aber noch Bausätze des „Geier I“ an Vereine geliefert.
Einer der Bausätze ging an die LSG Kempten im Allgäu (D-1434). Das ursprüngliche Zweirad-Abwurf-Fahrwerk wurde bei diesem Geier I in den 70er-Jahren durch ein festes Rad ersetzt. 1977 wurde der Geier von Tim Oulds von der Royal Air Force in Bruggen/Deutschland übernommen. Als Tim 1979 nach England versetzt wurde, nahm er den Geier mit. Der Geier war dann lange Jahre als BGA2557/EBP beim RAF Marham in Fenland stationiert, wo ihn viele Clubmitglieder gerne geflogen haben.
Beim Oldtimertreffen in Lasham 1994 hatte Jochen Ewald die Gelegenheit, dieses seltene Muster kennen zu lernen. In seinem Flugbericht im Fliegermagazin (6/95, „Der Sturzflug des Geiers“) erwähnt er, dass die Querruder für den großen Flügel zu klein ausgelegt waren, um eng zu kreisen. Jochen fand das Flugzeug problemlos im Handling und lobte die guten Steigleistungen und hervorragenden Streckenflug-Qualitäten des Geiers.
Die EBP wechselte in England mehrfach den Besitzer und war ab 21. Juli 2001 nicht mehr lufttüchtig. Laut Bordbuch fand ihr letzter Flug bereits am 28. September 1996 statt. Sie wartete dann in verschiedenen Scheunen in Yorkshire und Wiltshire auf ihre Grundüberholung. Glücklicherweise erweckte ihr Schicksal das Interesse des Modellfliegers Erwin Seibold. Er hatte Josef Allgaier zufällig bei einer medizinischen Behandlung kennengelernt und war mit ihm ins Gespräch gekommen. Im Herbst 2009 holte Seibold zusammen mit seinem Enkel die EBP aus England zurück an ihren Geburtsort – sehr zur Freude ihres Konstrukteurs! Im Kemptener Verein soll sie in einer Grundüberholung jetzt wieder lufttüchtig gemacht werden.
Kaum hatte der Prototyp des Geiers abgehoben, entschloss sich Allgaier, den Entwurf zu überarbeiten. Der Rumpf blieb dabei unverändert – zur Leistungssteigerung kam für die Flächen ein neues Laminarprofil, das NACA 633-618, das auch in der Ka 6 Verwendung fand, zum Einsatz. Die Spannweite blieb bei 17,76 Meter; der Flügel wurde aber deutlich schlanker mit einer Streckung von 22,53. Der Prototyp des „Geier II“, die damalige D-1440 und spätere D-9129 mit Wettbewerbskennzeichen CX, wurde in nur zwei Monaten bei Allgaier gebaut. Der Erstflug fand am 21. Juni 1956 in Unterwössen statt. Laut einem alten Kaufvertrag wurde das Flugzeug für 8.000 DM und einige Zentner Kartoffeln verkauft. Bei der WM 1956 in französischen St. Yan wurde die D-1440 direkt nach dem Einfliegen von einem Belgier geflogen. Ein kanadischer Pilot errang 1958 mit ihm bei der WM in Leszno (Polen) eine Platzierung im Mittelfeld, ohne sich vorher auf dem Muster einfliegen zu können. Bei der WM hatte der Geier II einen schweren Außenlandeschaden am Rumpf, der aber glücklicherweise in kürzester Zeit vom polnischen Reparaturteam wieder gerichtet werden konnte. Auch bei mehreren DM in den 50er und Anfang der 60er Jahre sollen Geier mitgeflogen sein, doch landeten sie dabei meistens nur in der 2. Hälfte des Feldes in der Endwertung.
Die CX war von 1971 – 1973 in Bisperode am Ith stationiert und ging von dort auf das Klippeneck. 1980 erwarb sie Reiner Kipp vom LSG Ravensburg (Flugplatz Mengen) und nahm sie 1985 mit nach Unterwössen. In der Dassu-Flugschule wurde sie von vielen Pilotinnen und Piloten geflogen. Eine ganze Reihe von Flugschülern haben damals auf diesem Flugzeug ihren 5-Stunden-Flug durchgeführt. Ende 1999 ging die CX an die „Deutsche Gesellschaft zur Erhaltung historischer Flugzeuge e.V.“ und war in Stillberghof bei Donauwörth stationiert. Seit Mitte 2008 befindet sie sich in der Grundüberholung.
Die Firma Allgaier lieferte auch Bausätze vom Geier II an Vereine. Aus wirtschaftlichen Gründen musste sie aber 1957 den Bau von Segelflugzeugen einstellen und widmete sich später der Kunststoff-Verarbeitung. 1957 waren nur noch drei Mitarbeiter im Flugzeugbau beschäftigt.
Die Geier-Fertigung ging danach an die Firma Rock in Inzell/Oberbayern, die über keinerlei Erfahrungen im Flugzeugbau verfügte. Dort wurden bis 1965 etwa 13 „Geier II B“ gefertigt. Der Besitzer der Firma, Herr Rock, hatte 1965 einen Außenlandeunfall mit einem Geier II B, bei dem sein Knie verletzt wurde. Im Krankenhaus traten dann bei ihm 3 Tage später eine Blutvergiftung und eine Embolie auf, an der er trotz einer Notamputation kurz darauf verstarb. Da wenig später der Werkstattleiter der Firma Rock bei einem Autounfall ums Leben kam, musste die Geierfertigung eingestellt werden. Die Betreuung des Musters ging danach an den 1. Aero-Club Stuttgart über, insbesondere an Herrn Ottokar Benda.
Die „B-Version“ des Geier II B hatte eine voll eingestrakte Haube, vergrößerte Querruder, kleine Keulen an den Außenflächen - sogenannte Torpedozapfen - und statt der Kufe mit Abwurffahrwerk ein festes bremsbares Rad. Wie mir Ottokar Benda erzählte, stammte das Fahrwerk vom abgestürzten Prototypen der BS-1. Dieses feste Rad wurde später auch bei den meisten älteren Geiern nachgerüstet. Ein Geier wurde von ihm sogar mit einem Einziehfahrwerk ausgestattet.
Durch einen Rechenfehler war die Schwerpunktbestimmung beim Geier II B fehlerhaft. Dies führte in den Folgejahren zu mehreren schweren Trudelunfällen, vor allem bei zu leichten Piloten mit hinteren Schwerpunktlagen. Am 20. März 1973 wurden deshalb mit der „LTA 73-33 Rock“ alle Geier dieser Baureihe gesperrt, konnten zunächst aber mit einer VVZ weiterfliegen. Am 21. Februar 1974 erschien die „LTA 74-16 Rock“, in der auf ein korrigiertes Flug- und Betriebshandbuch beim Musterbetreuer verwiesen wurde. Nach einer Jahresnachprüfung mit Schwerpunktswägung und ausreichend Blei in der Nase, welches das Rüstgewicht auf 285 kg erhöhte, wurden die Geier II B dann wieder uneingeschränkt lufttüchtig.
Leider hängt dem Geier wegen der fehlerhaften Schwerpunktberechnung ein ausgesprochen schlechter Ruf in Segelfliegerkreisen an. Musterbetreuer Ottokar Benda hält den Geier II B mit ausreichend Zuladung für eine ausgesprochen stabile und gutmütige Konstruktion. Der Holm, der bei Scheibe gefertigt wurde, verfügt über eine 12fache Bruchlast. Benda hatte mit seinem Eigenbau des Geier II B, der D-8467, nicht nur erfolgreich viele Hahnweide-Wettbewerbe bestritten, sondern ihn auch im einfachen Kunstflug (Looping und Turns) eingesetzt, wo er unproblematische Flugeigenschaften zeigte. Aufgrund des ungeschränkten Flügels mit dem Laminarprofil ist der Geier II zwar trudelfreudig, aber nicht giftig, denn er lässt sich mit dem Standardverfahren ganz problemlos wieder aus dem Trudeln ausleiten.
Im April 2008 tauchte plötzlich wieder ein Geier in den Startlisten bei dezentralen Wettbewerben auf: Unsere D-5828, ein Geier II B mit der Werknummer 03, führt regelmäßig über seiner neuen Heimat Nastätten im Westtaunus Thermikflüge durch und dokumentiert diese mit einem Logger. Dieser Geierli verfügt über eine vollständige Dokumentation, so dass sein gesamter Lebenslauf und - anhand des Einzelteilprüfberichts vom 14. Mai 1960 – sogar seine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte bekannt sind. Es handelt sich bei der Werknummer 03 der Firma Rock nicht etwa um einen Neubau, sondern um einen Wiederaufbau eines älteren Geier II B. Bei diesem war das Rumpfvorderteil mit den Beschlägen und Flächenwurzeln sowie der linke Holm zerstört worden. Vermutlich war dies der Geier II B mit der Werknummer 01. Claus-Dieter Zink wurde Ende der 50er Jahre in Unterwössen Zeuge eines tödlichen Unfalls, bei dem der Pilot kurz nach dem Start mit seinem nagelneuen Geier direkt aus dem Kreisen in den Wald stürzte.
Der Erstflug der Werknummer 03 - damals noch als D-1501 - fand am 20. Mai 1961 in Bad Reichenhall-Obermühle statt, im F-Schlepp hinter einem Fieseler Storch. Sie war zunächst bei der Alpinen Fliegergruppe in Traunstein stationiert. Über Bissingen und Paderborn kam sie 1967 zu Gerhard Billert nach Warburg, der sie viele Jahre in Haltergemeinschaft mit Andreas Mieslinger hatte. In dieser Zeit wurden viele große Dreiecksflüge über mehr als 400 km von Meschede/Schüren aus mit ihr durchgeführt. Von 1976 bis 1981 war sie beim Pastor Gerpheide, dessen beide Söhne auch den Geier flogen. Über Feuerstein kam sie dann zur Akaflieg Erlangen, die die D-5828 von 1986 - 1989 einer Grundüberholung bei der Firma Eichelsdörfer unterzogen. Das Flugzeug wurde dabei leuchtend kanariengelb lackiert und das Seitenruder mit einem grimmig dreinschauenden Geier verziert. Heute, nach knapp 1.300 Flugstunden in etwa 960 Starts, befindet sich die D-5828 immer noch in einem guten Zustand.
Anfang der 90er Jahre hatte der Geier beim Straßentransport einen Unfall. Durch den maßangefertigten geschlossenen Eigenbauhänger blieb das Flugzeug – abgesehen von ein paar Kratzern – heil. Die Original-Haube musste allerdings bei Eichelsdörfer durch eine voll eingestrakte SHK-Haube ersetzt werden, die glücklicherweise noch auf Lager war. Sonst blieb die D-5828 – abgesehen von ihrem turbulenten Start ins Fliegerleben – trotz vieler Halterwechsel glücklicherweise unfallfrei.
Häufig liest man über den Geier II, dass der Rumpfanstellwinkel nicht optimal sein soll und dass dies zu problematischen Flugeigenschaften führt. Richtig ist, dass das Horizontbild des Geier II B ungewöhnlich ist, da der Rumpf sogar im Langsamflug deutlich nach vorne geneigt ist. Dies erlaubt aber dem Piloten einen ungewöhnlich weiträumigen Panoramablick, der der Luftraumbeobachtung ganz fraglos zuträglich ist. Der Geier II B verfügt über sehr angenehme Flugeigenschaften, die an eine Ka 6 erinnern. Für einen 18 m-Flieger ist er mit seinem langen Rumpf und dem großen Seitenruder ungewöhnlich wendig. Dadurch lassen sich selbst schwächste Aufwinde problemlos auskurbeln.
Chris Wills veröffentlichte in den VGC News 126 im Frühjahr 2009 einen Kurzbericht zum Geier I. Darin schrieb er: „Um erfolgreich zu sein in der Konstruktion und dem Bau von Segelflugzeugen braucht es drei Dinge: Viel Geld für den Bau und die Erprobung des Prototypen, einen bekannten Namen in Pilotenkreisen sowie erfolgreiche Wettbewerbspiloten, die mit dem Prototypen an die Spitze fliegen. Keines davon hatte Allgaier, der in kürzester Zeit, voller Idealismus, mit harter Arbeit die beiden Prototypen konstruierte, baute und in die Luft brachte.“ So blieben der Geier I und II leider die einzigen Segelflugzeuge von Josef Allgaier, von denen wohl insgesamt nicht einmal 20 Exemplare gebaut wurden.
Rumpflänge | 8,20 m |
Spannweite | 17,76 m |
Flügelfläche | 14 m² |
Streckung | 22,53 |
Flächenbelastung | 26,43 kg/m² |
geringstes Sinken | 0,60 m/s bei 70 km/h |
bestes Gleiten | 35 bei 80 km/h |
DAeC-Index | 88(*) |
(*) wie ASK 18, Pilatus B4 mit EZ, Std. Austria SH, Zugvogel III a, SF 27 B, SB 5e und Foka